und täglich grüßt

kurzgeschichte

14 geschichten

in einem buch.

Flüchtige Grüße, höflich Wegschauen, Anschnauzen. Die kleinsten Momente des menschlichen Miteinanders erscheinen meistens bedeutungslos und manchmal skurril. Dabei können ihre Auswirkungen eklatant sein. In diesem kleinen Büchlein können sie beispielhaft nachverfolgen, was passiert, wenn man sich begegnet. Tag für Tag für Tag.

5. mouhanad

Als ein Stammkunde den Laden bekniet, legt der Besitzer, der gerade mit seinem Sohn telefoniert, sein Handy weg und spricht ihn an. „Du siehst …“ Mouhanad fehlen die Worte. „… noch beschissener aus als sonst?“, will Giannis fragen aber seine trockene kleine Schildkrötenzunge verklebt ihm die sprachliche Außenwirkung, also nickt er nur und fühlt, wie seine Augen bei der Bewegung etwas tiefer in ihre Höhlen rutschen und sich seine kantig eingefurchten Augenringe um eine Nuance verdunkeln. Mouhanad vom Spätkauf-Mouhanad kennt das Gesicht von Durst, er ist beruflich darauf geschult und so läuft er direkt zum richtigen Kühlschrank, um den Patienten zu seinen Füßen mit einem kalten, herb-süßlichen Getränk zu versorgen. Mouhanad hockt sich neben den mittlerweile im Gang liegenden Giannis, hält ihm sanft den Hinterkopf und flößt ihm die eiskalte Apfelschorle in kleinen Schlucken ein. Die Schildkrötenzunge wächst, derart befeuchtet, wieder zu einer menschlichen Normgröße an, der verklebte Gaumen entspannt sich und Giannis Haut gewinnt sofort wieder an Spannkraft. „Danke!“, sagt er zu seinem freundlichen Ersthelfer, als der ihn wieder auf die Füße stellt. „War wohl wieder schlimm heute?“, fragt Mouhanad. Giannis starrt nur ins Leere und nickt und Mouhanad döst ein bisschen ein. „Ich denke immer“, antwortet er dann doch noch nach ein oder zwei Stunden und weckt Mouhanad damit wieder auf, „dass es schlimmer nicht werden kann, aber dann sagt das Schicksal fick dich, na sicher da geht noch was und dann geht da auch immer noch was.“ In dem Moment betritt eine Frau den Laden und sie sieht reich und glänzend aus – als wäre sie immer bestens hydriert. Die zwei Männer betrachten sie einen Moment lang, geblendet von ihrem Mantel, der aus den Fellen von 100 Falabellas hergestellt wurde, die vor ihrer Hinrichtung mehrere Jahre lang täglich gestreichelt wurden, um diesen unvergleichlich zarten Glanz zu erwerben. „Coke Zero?“, ruft sie in die Richtung der beiden, denn für den kompletten Satzbau hat sie keine Zeit. Mouhanad zeigt in die entsprechende Richtung und wendet sich wieder Giannis zu, der mittlerweile selbstständig seine zweite Apfelschorle trinkt. „Da war heute eine Frau, aus dem Theater, die Morbus Addison hat. Und wenn man das hat, kann man an Stress sterben. Und dann ist die im Wartezimmer ausgeflippt und wäre echt fast gestorben.“ Die beiden Männer sind sich einig, dass sie unter solchen Bedingungen schon lange nicht mehr leben würden. Und die blendende Coke Zero Frau steht jetzt energisch mit dem Fuß tappend hinter Giannis, deswegen zahlt er und verabschiedet sich, um sich oben in seiner Wohnung endlich ins Bett zu legen. „Darf es sonst noch etwas sein?“, fragt Mouhanad die Frau. Sie schaut sich kurz im Laden um und urteilt wahrheitsgemäß „Ich glaube nicht, dass sie sonst noch irgendetwas verkaufen, dass ich konsumieren kann, oder haben Sie etwas ohne Zucker, Gluten oder tierische Produkte?“ Sie wartet keine Antwort ab, legt 5 Euro auf den Tresen, sagt gütig lächelnd: „Stimmt so“ und verlässt den Laden in dem schönen Gefühl, ihre gute Tat für heute getan zu haben. Mouhanad schaut ihr mitleidig nach, als ihm sein Sohn wieder einfällt. Er ruft ins Telefon: „Sami?“. Sein Sohn ist mittlerweile joggen gegangen und schnauft: „Ey Papa, was war das für eine Geschichte mit der Notaufnahme, ist irgendwas bei Dir passiert?“ Mouhanad lacht: „Nein, nichts Außergewöhnliches.“

Die anderen 13 Geschichten finden sich hier.

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